Gibt es den Selbstoptimierungs-Zwang wirklich? - Warum ich mich das frage und ein Widerspruch als Antwort

Über eine Frage komme ich einfach nicht hinweg. Ich finde keine Antwort und sollte sie eigentlich auch nicht stellen, aber trotzdem taucht sie regelmäßig in meinem Kopf auf: Gibt es den Selbstoptimierungs-Zwang wirklich?

Was soll denn die Frage? Man liest doch überall davon, wie schlimm alles sei, unter welchem Druck wir alle stünden, dass wir uns ständig dazu verpflichtet sähen etwas zu verändern und zu verbessern. Das Vollkornbrötchen morgens beim Bäcker ist ja schon ein guter Anfang, aber sollte es nicht besser glutenfrei sein? Und dann noch Käse drauf? Gut, das ist schonmal besser als Wurst, aber ein veganer Brotaufstrich wäre noch besser, und so geht es den ganzen Tag lang weiter. Es gibt es sogar eine ARD-Doku mit Anke Engelke mit dem Titel  “Schöner - schlauer - schneller”, die sich dem Selbstoptimierungs-Zwang widmet. Viel stärker im Mainstream kann ein Thema kaum angekommen sein. Wenn ich aber konkrete Beispiele für selbstoptimierendes Verhalten suche, fällt es mir schwer, echte Fälle zu finden. Nach längerem Nachdenken sind mir lediglich zwei Leute in meinem deutschen Freundes- und Bekanntenkreis eingefallen, die ich tatsächlich als Selbstoptimierer bezeichnen würde. Das war’s! (Unter meinen amerikanischen Freunden sind es ein paar mehr.) Bei unserem letzten Deutschlandbesuch, der keine vier Monate her ist, habe ich mit vielen meiner Freunde, Bekannten und Verwandten über das Thema Selbstoptimierung gesprochen. Das Ergebnis: viele wussten gar nicht, wovon ich spreche, kannten das Wort nicht oder trauten sich gar nicht erst nachzufragen. Die, die etwas mit dem Begriff anfangen konnten, machten sich eher darüber lustig und distanzierten sich von jeglichen Selbstoptimierungs-Bestrebungen. Passt irgendwie nicht zum vielfach beschworenen Selbstoptimierungs-Wahn. Wie lässt sich das erklären? Habe ich vielleicht einfach nur die falschen Freunde oder sind meine Freunde so toll, dass sie Selbstoptimierung nicht nötig haben? Oder ist Selbstoptimierung einfach noch nicht in der süddeutschen Provinz angekommen?

Wie halten es die Deutschen mit der Selbstoptimierung?

Ich kann natürlich schlecht verallgemeinerbare Schlüsse von meinem sozialen Umfeld ziehen, also sollte ich mal schauen, ob es eine repräsentative Umfrage zur Verbreitung von Selbstoptimierung in der deutschen Bevölkerung gibt. Bisher habe ich zwei Studien dazu gefunden. In einer Umfrage des GfK Vereins von 2014 mit einer repräsentativen Stichprobe aus 1108 Personen gaben 61% an, dass sie den Begriff Selbstoptimierung noch nie gehört hätten, und nur 8% antworteten, dass sie den Begriff sicher kennen.¹ Man muss hier allerdings bedenken, dass die Studie von 2014 ist. In den letzten drei Jahren hat das Thema Selbstoptimierung aber ziemlich Fahrt aufgenommen. Ein aktuelleres Bild geben die Ergebnisse der Healthstyle III Studie von Corinna Mühlhausen ab, die im Oktober 2016 veröffentlicht wurden. Laut dieser Studie geben 31% der befragten Deutschen an, Selbstoptimierer zu sein, während 19% Prozent Selbstoptimierung ablehnen.² Das heißt, dass sich immerhin jeder Dritte der Befragten als Selbstoptimierer sieht! ³ Mehr als ich in meinem Freundeskreis beobachten kann, aber definitiv gibt es noch Luft nach oben. Corinna Mühlhausen, die Autorin der Studie, sagt im Hinblick auf die Ergebnisse selbst, dass von einem Selbstoptimierungs-Wahn keine Rede sein kann. Wenn Selbstoptimierung aber gar nicht so weit verbreitet ist und zumindest noch sicher davon entfernt ist, zur Epidemie zu werden, wie lässt sich dann die verbreitete Wahrnehmung eines Selbstoptimierungs-Zwangs erklären?

Selbstoptimierungs-Zwang ohne Selbstoptimierung - Wie lässt sich das erklären?

Das diffuse Gefühl, dass man mehr tun und an sich arbeiten müsse, kennt jeder. Ich behaupte sogar, dass es die meisten mehrmals täglich überfällt. Mir geht es zumindest so. Aber in den wenigsten Fällen handeln wir auch danach. Es ist daher wichtig zu erkennen, dass der wahrgenommene Selbstoptimierungs-Zwang nicht unbedingt mit dem entsprechenden Selbstoptimierungs-Verhalten einhergeht. Das klingt trivial, aber wenn man überall vom Selbstoptimierungs-Wahn liest, ist es nur logisch, gleichzeitig  anzunehmen, dass auch viele Menschen aktiv Selbstoptimierung betreiben, was aber so nicht zu stimmen scheint, wie die Ergebnisse der Healthstyle-Studie zeigen.

Außerdem muss man zwischen verschiedenen Betrachtungsebenen unterscheiden: während aktive Selbstoptimierung auf Ebene des Individuums stattfindet, wird der Trend dazu meist auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet. Wenn über Selbstoptimierung berichtet wird, wird überwiegend auf die gesellschaftliche Entwicklung geschaut und die Auswirkung des Selbstoptimierungs-Trends auf die Gesellschaft diskutiert. Um das tatsächliche Selbstoptimierungs-Verhalten einzelner Personen geht es nur selten. Wenn Individuen, die Selbstoptimierung betreiben, beschrieben werden, dann sind das meist Extrembeispiele wie der Quantified-Self-Pionier Gary Wolf, die ihr Leben ganz der Selbstoptimierung verschrieben haben. Darüber, wie Selbstoptimierung im Alltag “normaler” Durchschnittsmenschen aussieht, wird selten berichtet.

Meine Beobachtung, dass tatsächliche Selbstoptimierung gar nicht so häufig ist, scheint also nicht ganz falsch zu sein. Gleichzeitig ist der Selbstoptimierungs-Zwang aber durchaus real und spürbar und wird mehrfach auf gesellschaftlicher Ebene diagnostiziert. Auch wenn es mir widersprüchlich erscheint, ich muss wohl akzeptieren, dass beides gilt: Der Zwang zur Selbstoptimierung sitzt unserer Gesellschaft im Nacken und wir spüren täglich seinen Atem. Zeitgleich ist selbstoptimierendes Verhalten allerdings eher die Ausnahme als die Regel, zumindest wird es noch nicht von der Mehrheit betrieben. Trotzdem würde ich gerne die Frage beantworten, wie es um die Selbstoptimierungs-Bemühungen der Deutschen steht, was sie unter Selbstoptimierung verstehen, inwiefern sie wirklich Selbstoptimierung im Alltag betreiben und wie das aussieht. Leider fehlen mir für eine repräsentative Befragung dazu im Moment die Mittel. Vielleicht habe ich Glück und jemand anders führt demnächst so eine Befragung durch. Bis dahin wäre ich für weitere Gedanken, Erfahrungen oder Anmerkungen zu dieser Frage sehr dankbar. Bin ich die Einzige mit so wenig Selbstoptimierung im Umfeld oder suche ich einfach nur falsch und bin zu streng in meinen Kriterien?

 

Verweise

[3] Leider weiß ich nicht, wie Selbstoptimierung in der Studie definiert war oder ob die Befragten auf Basis ihrer eigenen Definition von Selbstoptimierung geantwortet haben. Je nachdem, wie eng oder weit die Definition von Selbstoptimierung war, haben sich mehr oder weniger Teilnehmer als Selbstoptimierer kategorisiert. Meine Definition von Selbstoptimierung ist zum Beispiel ziemlich eng, weil sie Selbstoptimierung als einen überwachten Prozess versteht, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Eine Definition, die schon die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen als Selbstoptimierung versteht, wie es an einer Stelle in der Ergebnispräsentation zur Healthstyle- Studie heißt, ist dagegen eher weit.